Das Gleichnis von den klugen und
den törichten Jungfrauen aus dem 25. Kapitel des Matthäusevangeliums steht im gleichen Zusammenhang wie das 13. Kapitel des
Markusevangeliums, das ich am Totensonntag im Gottesdienst hörte: Es geht um
die letzten Dinge, das Weltgericht und das Wiederkommen Christi. Beide Kapitel
beziehen sich auf die Abschiedsreden Jesu kurz vor der Karwoche, die mit der
Salbung in Bethanien beginnt.
Markus beginnt im 13. Kapitel
(Vers 33 – 37) mit den Worten Jesu: „Sehet euch vor, wachet! Denn ihr wisset
nicht, wann die Zeit da ist.“ Dann erzählt Jesus das Gleichnis von dem Herrn,
der auf eine Reise geht und seinem Türhüter gebietet, zu wachen, denn keiner
wisse, wann der Herr zurückkomme, ob am Tag oder in der Nacht.
In Matthäus erzählt Jesus das
Gleichnis von den zehn Jungfrauen, von denen fünf genug Öl in ihren Lämpchen haben
und auch bei Nacht sehen, während fünf kein oder nicht genügend Öl haben und
neues kaufen müssen. Just, als sie in der Stadt sind, um Öl zu kaufen, kommt der
„Bräutigam“ und die fünf „törichten Jungfrauen“ stehen vor verschlossenen
Türen. Der Herr lässt sie nicht ein und ruft: „Ich kenne euch nicht!“ Am Ende
des Gleichnisses stehen, beinahe im gleichen Wortlaut wie bei Markus, die Worte:
„Darum wachet! Denn ihr wisset weder Tag noch Stunde.“
Diese beiden Perikopen werden in
den christlichen Kirchen gerne am „Ewigkeitssonntag“ verlesen, wie der
Totensonntag auch heißt. Der letzte Sonntag im Kirchenjahr soll die Menschheit
daran erinnern, zu wachen, damit sie den wichtigsten Moment in der
Menschheitsgeschichte nicht verpassen: das Wiedererscheinen des Christus.
Genau darum geht es mir Tag für
Tag. Auch wenn es mir nicht immer bewusst ist, so achte ich doch so wach wie
möglich auf die Zeichen der Zeit.
Zu diesen Zeichen der Zeit gehört
auch, was im Fernsehen die Gemüter des Publikums bewegt. Es ist für mich ein
wichtiges Symptom, dass seit 1970 jeden Sonntagabend im ersten Programm des
Deutschen Fernsehens die Krimis aus der Serie „Tatort“ ausgestrahlt werden. Der
„Tatort“ gilt als die bisher am längsten laufende Fernsehserie Deutschlands. Ich habe nur
wenige dieser Krimis angeschaut und wenn, dann nur ganz bewusst. Für mich
gehört der Tatort nicht zum Ritual, an dem Millionen Zuschauer Sonntag für
Sonntag teilhaben. Dieser „Mord am Sonntag“ hat im Laufe der Zeit die
Samstagabendsendung „Das Wort zum Sonntag“, die seit 1954 ausgestrahlt wird, an
Bedeutung weit übertroffen. Natürlich steht der „Tatort“ am Sonntagabend auch
in Konkurrenz zu den kirchlichen Gottesdiensten am Sonntagmorgen.
Die Säkularisierung unserer
Gesellschaft und die Erosion der ursprünglich christlichen Werte der
abendländischen Kultur kann man an dieser Serie studieren, die immer brutaler
und geschmackloser wird. Sie hat, neben vielem anderen, dazu beigetragen, dass
unsere Sitten verwahrlost und unsere Empfindungen verroht sind.
Die ersten Ansätze zu dieser
Verrohung mache ich in den 50er und 60er Jahren aus. Ich weiß noch nicht,
welches Ereignis die „Initialzündung“ war, aber ich komme immer mehr zu der
Überzeugung, dass es ein kleiner Schwarz-Weiß-Film war, der eigentlich als
billiger Horrorfilm konzipiert war, dann jedoch mit einem enormen Werbeaufwand
am 16. Juni 1960 in den amerikanischen Kinos uraufgeführt wurde. Ich meine den Film „Psycho“ von Alfred Hitchcock.
Bei meinen Recherchen stoße ich
auf das französische Autorenteam Pierre Boileau (1906 – 1989) und Thomas
Narcejac (1908 – 1998), die als „Boileau-Narcejac“ zwei Schlüsselromane
veröffentlichten, die später erfolgreich verfilmt wurden: 1952 – in meinem
Geburtsjahr – erschien der Roman „Celle qui n’etait plus“, den Henri-Georges
Clouzot 1955 unter dem Titel „Les Diaboliques“ (Die Teuflischen) verfilmte,
zwei Jahre später (1954) der Roman „D’entre les Morts“, den Alfred Hitchcock
1958 unter dem Titel „Vertigo“ (Vertigo – aus dem Reich der Toten)[1]
verfilmte. Hitchcock hatte sich auch für die Filmrechte von „Celle qui n’etait
plus“ interessiert.
Der Film „Die Teuflischen“ von
Henri-Georges Clouzot (1907 – 1977) wurde ein großer Erfolg in den Kinos und
wird bis heute immer wieder im Fernsehen aufgeführt. Er gilt als stilbildendes
Meisterwerk des Psycho-Thrillers.
Der Film handelt von einer
hübschen, etwas naiven und herzkranken Frau, der reichen Internatsbesitzerin
Christina Delassalle (gespielt von Clouzots Ehefrau Vera Clouzot). Ihr Mann
Michel Delassalle (gespielt von Paul Meurisse) ist der Leiter des Internats. Er
betrügt seine Frau mit der Lehrerin Nicole Horner (gespielt von Simone
Signoret, seit 1950 verheiratet mit Yves Montand).
Schon die Namen deuten auf
geistige Zusammenhänge: Christina steht für die „christliche Unschuld“ und
Reinheit. Michel ist als Anstifter zu dem teuflischen Anschlag auf seine
Ehefrau ein dunkler Gegenengel des Erzengels Michael, der eigentliche Teufel
des Films, der den perfekten Mord plant. Und Nicole Horner, eine attraktive
blonde Lehrerin am Internat, deren Nachname auf eine deutsche Herkunft verweist,
verbündet sich mit ihm, obwohl sie Christina Freundschaft vorgaukelt, zu dem
teuflischen Plan.
Die Spannung wird bis zu der
gruseligen Aufklärung am Ende, als der tot-geglaubte Michel plötzlich aus dem
Wasser der Badewanne aufsteigt und sich die falschen Augenschalen von den Augen
drückt, gesteigert. In dieser Szene erleidet die herzkranke Frau schließlich
den beabsichtigten Herzinfarkt und der Weg des teuflischen Ehebrechers und
Millionenerben ins Bett seiner Geliebten scheint frei zu sein.
Die bittere Ironie der Geschichte
ist, dass Vera Clouzot, die bereits in dem ersten kommerziellen Erfolg ihres
Mannes, „Le Salaire de la Peur“ (Lohn der Angst) aus dem Jahre 1953, eine
kleine Rolle übernommen hatte, am 15. Dezember 1960 wegen ihrer angeborenen
Herzschwäche tatsächlich an einem Herzinfarkt stirbt. Ihr Mann, der in dieser
Zeit an einem Film mit der jungen Brigitte Bardot arbeitete, der 1960 unter dem
Titel „La Verite“ (Die Wahrheit) in die Kinos kam, hatte ein Verhältnis zu
seiner Hauptdarstellerin begonnen, worunter seine herzkranke Frau sehr litt.
Henri-Georges Clouzot starb erst 16 Jahre und knapp ein Monat später, am 12.
Januar 1977.
Die zeitgenössische französische
Presse kommentierte die Parallelen zwischen Film und Wirklichkeit entsprechend.[2]
So kann man das Jahr 1955, als
der Film mit dem programmatischen Titel „Die Teuflischen“ in die Kinos kam, als
das eigentliche Initialjahr ausmachen, in dem das Böse mit menschlichem Antlitz
die internationalen Leinwände eroberte.[3]
Insofern kann man mit Hilfe der
entsprechenden Filme das „Mysterium des Bösen“ studieren, von dem Rudolf
Steiner als charakteristisch für die fünfte nachatlantische Kulturepoche
sprach.[4]
Ich komme zurück auf die 60er
Jahre, als Ganoven und Kopfgeldjäger an Stelle von edlen Männern als Helden in
Filmen immer häufiger wurden. Gleichzeitig mit den deutschen Western, in denen
die Männerfreundschaft zwischen einem edlen Weißen (Old Shatterhand) und einem
edlen Indianer (Winnetou) naiv glorifiziert wird, zeigen die Spaghetti-Western
aus Italien und die Gangsterfilme aus Frankreich eine ganz neue Art von Helden.
Dass ausgerechnet europäische Filme dabei eine Vorreiterrolle spielten,
verwundert zunächst. Aber Hollywood zieht bald nach und macht mit dem Bösen,
der Gewalt und dem Schrecken viel Geld.
In „Psycho“ tritt das Böse in der
Gestalt eines schizophrenen Mannes auf, der „im Auftrag“ seiner toten Mutter
mordet, wenn er eigentlich lieben will: Norman Bates, gespielt von Anthony
Perkins.
Die weibliche Hauptperson, die
schuldig-unschuldige Blondine (gespielt von einem Filmstar der 50er Jahre: Janet
Leigh) fällt ihm bereits nach dem ersten Drittel des Films in die Hände und
wird in der berühmten Duschszene grausam von ihm ermordet.
Wieder spielt, wie schon im Film
„Die Teuflischen“ Wasser eine wichtige Rolle. Wasser ist eigentlich das Lebenselement
und hat einen Bezug zu den ätherischen Lebenskräften, die für das
Wiedererscheinen des Christus zentral sind. Aber gerade der Ätherleib des
Menschen wird beim unbewussten Anschauen von Filmen – ganz gleich mit welcher
Handlung – geschädigt.
Rudolf Steiner meint in einem
Vortrag vom 27. Februar 1917 in Berlin, dass der „Kinematograph (…) ein
besonders hervorragendes Mittel“ sei,
„den Menschen in den Materialismus hineinzujagen.“ Er fährt etwas später fort:
„Das, was dem Mensch der Kinematograph bietet, nistet sich in eine tiefere,
materielle Schicht, als wir sonst im Wahrnehmen haben. Der Mensch wird
ätherisch glotzäugig. Da wirkt man nicht nur auf dasjenige, was der Mensch im
Bewusstsein hat, sondern auf sein tiefstes Unterbewusstsein wirkt man
materialisierend.“[5]
Als Michel Delassalle in dem
Klassiker „Die Teuflischen“ aus der Badewanne „von den Toten aufersteht“, um
seine Frau durch Erschrecken gezielt zu töten, da hat er das „Lebenselixier
Wasser“ bewusst missbraucht. Unvergesslich sind seine weißen „Glotzaugen“, die
ihn als Toten erscheinen lassen. Erst als er in der unvergesslichen Gruselszene
die weißen Glotzaugenschalen von den Augäpfeln drückt, wird Christina und den
Zuschauern klar, dass er gar nicht tot ist, sondern nur ein teuflisches Spiel
gespielt hat. Wenige Minuten vor Schluss des Films erkennen die in den 50er
Jahren noch nicht so verrohten Zuschauer mit der herzkranken Frau die
„Wahrheit“ hinter all den „Rätseln“, die der „Psychothriller“ im Laufe seiner
Handlung in Form einer Art Schnitzeljagd aneinanderreiht.
So funktioniert „Aufklärung“ im
Jahre 1955, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Herrschaft
des „Bösen“ in Europa. Die Verbrechen der Nationalsozialisten, durch die die Fratze
des Bösen in menschlicher Gestalt ausgerechnet in einem Kulturland wie Deutschland
zum ersten Mal erschien, werden erst in den sogenannten Ausschwitz-Prozessen Anfang
der 60 Jahre zum Gegenstand und treten nicht zuletzt durch die Reportage von Hannah
Ahrendt, die sie über den Eichmann-Prozess in Jerusalem im Jahr 1964 unter dem Titel
„Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ veröffentlicht hat, ins allgemeine Bewusstsein.
Rudolf Steiner sagt in seinem
Vortrag richtig voraus, dass die Kinematographenkunst – er spricht tatsächlich
von einer Kunst – noch „immer mehr und mehr ausgebildet werden (…) wird“ und
fährt fort: „Das wird der Weg in den Materialismus sein. Ein Gegengewicht muss
geschaffen werden, das kann nur darin bestehen, dass der Mensch mit der Sucht
nach Wirklichkeit, die im Kinematographen entwickelt wird, etwas verbindet; -
wie er mit der Sucht entwickelt ein Heruntersteigen unter die sinnliche
Wahrnehmung, so muss er ein Heraufsteigen über die sinnliche Wahrnehmung, das
heißt in die geistige Welt entwickeln. Dann wird ihm der Kinematograph nichts
schaden, da mag er sich dann die Kinematographenbilder anschauen, wie er will…“[6]
Reto Andrea Savoldelli, der Schweizer
Filmemacher, Roman-Autor und Essayist hat als ausgewiesener Kenner der
Erkenntnistheorie Rudolf Steiners in seiner neuesten Studie[7] darauf
hingewiesen, wie zum Beispiel der Schrecken in den ersten Bruchteilen von
Sekunden danach zu einer Wahrnehmung führt, die der Mensch im gewöhnlichen
Leben eher selten macht. Rudolf Steiner nennt das „die reine Wahrnehmung“. In
der Regel verknüpft der erwachsene Mensch – anders als Kinder – seine
Wahrnehmungen sofort mit Begriffen. Begriff und Wahrnehmung fallen in den
alltäglichen Erfahrungen zusammen. Nur in ausgewählten Momenten tritt der
ursprüngliche Zustand der reinen Wahrnehmung ein, so zum Beispiel in dem
Schreckmoment.
In vielen Psychothrillern wird
der Zuschauer geschickt auf diesen entscheidenden Schreckmoment hingeführt. So
war es den Verantwortlichen von Filmen wie „Die Teuflischen“ oder „Psycho“
wichtig, die Zuschauer am Ende der Filme darauf hinzuweisen, dass sie die
Auflösung der Rätsel, die so kunstvoll konstruiert worden waren, nicht
weitersagen. Am Ende von „Les Diaboliques“ wird zum Beispiel der Satz
eingeblendet: „Seien Sie nicht teuflisch, verraten Sie Ihren Freunden das Ende
des Films nicht!“
Genau diese Momente, die man auch
als „Nervenkitzel“ bezeichnen kann, sind es, die das vom Alltag gelangweilte
Publikum immer wieder ins Kino treibt. Rudolf Steiner spricht bereits 1917 von der
„Sucht nach Wirklichkeit, die im Kinematographen entwickelt wird“ (s.o.). Es
handelt sich dabei um eine künstliche Wirklichkeit, die etwas verspricht, was
es in der natürlichen Wirklichkeit nicht zu geben scheint: Erfahrungen, die
nicht alltäglich sind. Salvodelli zitiert unter anderen den Hollywoodregisseur
William Friedkin („French Connection“, 1971 und
„The Exorcist“, 1973), der die Kunst des Filmemachens auf die kurze
Formel bringt: „Es gibt drei Möglichkeiten, Film zu benutzen. Entweder du bringst die Leute zum Lachen oder zum
Weinen, oder du erschreckst sie. Mir
liegt das Letzte am Besten.“ (a.a.O., S 22).
Wie anders klingt da Novalis, der
von den poetischen Momenten des Lebens spricht und dabei drei Beispiele nennt:
eine Reise, eine Hochzeit oder eine Kindsgeburt. Novalis sah die Aufgabe der
Dichtung darin, den Alltag in den „Geheimniszustand der Poesie“ zu erheben.
Novalis fand das Leben mit
Sicherheit nicht langweilig.
[1] Siehe
meine Filmkritik: http://johannesws.blogspot.de/2016/04/alfred-hitchcock-und-das-christentum.html
[3] Das Kino hatte, das muss man ergänzen,
schon immer ein Faible für das Böse und für das Verbrechen. Das fängt bereits
1920 mit dem expressionistischen Meisterwerk „Das Kabinett des Dr. Caligari“
von Robert Wiene in Deutschland an, geht 1922 und 1932 mit den Dr.
Mabuse-Filmen von Fritz Lang weiter und gelangt schließlich nach Amerika, wo
Carl Laemmles Filmfirma „Universal“ in den 30er Jahren mit Horrorfilmen wie
„Frankenstein“ und „Dracula“ große Erfolge feierte.
[4]Im
vierten und fünften Vortrag des Zyklus „Geschichtliche Symptomatologie“ von 25.
Und 26. Oktober 1918 spricht Rudolf Steiner in Dornach vom „Geheimnis des Bösen“
oder noch bedeutsamer vom „Mysterium des Bösen“. Den Vortrag vom 26. 10. 1918
leitet er so ein: „Selbst innerhalb der Grenzen, die gegenwärtig noch geboten
sind, wenn man über solche Dinge spricht, kann man dasjenige, was von dem
Mysterium des Bösen handelt in der fünften nachatlantischen Kulturperiode, der
Periode der Bewusstseinsseele, in der wir leben, eigentlich nicht ohne tiefe
Bewegung besprechen. Denn es wird dadurch etwas berührt, was zu den tiefsten
Geheimnissen dieser fünften nachatlantischen Periode gehört, was, wenn es
besprochen wird, heute noch auf sehr wenig entwickelte menschliche Fähigkeiten
des Verständnisses gerade für solche Dinge stößt. Die Empfindungsmöglichkeiten,
welche die heutige Menschheit für solche Dinge hat, sind noch wenig entwickelt.“
Siehe auch: https://anthrowiki.at/Geheimnis_des_B%C3%B6sen
[5] Siehe
Reto Andrea Savodelli, Rudolf Steiner über das Kino – zur Genealogie des Films,
Seminar-Verlag, Basel, 2017, S 36.
[6] A.a.O.
[7] Siehe Anmerkung 5. Das Büchlein kam gestern – sozusagen druckfrisch – bei mir an und ich arbeite
es im Augenblick mit großem Gewinn Seite für Seite durch.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen